FASZINATION LERNEN | BURRA – Der fabelhafte Aufstieg der Büroarbeit

»BURRA« Wie uns ein einzelnes Wort eine ganze Geschichte erzählen kann und uns erfahren lässt, wo unsere heutige Bürotätigkeit ihren Anfang nahm. Wie sich aus einer Problemstellung im Mittelalter ein Begriff entwickelt, der nicht mehr aus unserem täglichen Leben weg zu denken ist.

Wenn es mir gut geht, dann kann ich wieder Bücher lesen.

Das mag vielleicht etwas merkwürdig klingen, kann man doch in jeder Stimmung Bücher lesen, oder? Prinzipiell ist das richtig. Wir sind in jeder Gefühlsstimmung in der Lage, ein Buch zu lesen und doch macht es viel mehr Sinn und Spaß, wenn ich voll aufnahmefähig bin. Ich kann mich dann voll und ganz auf das Geschriebene einlassen und vernetze Knotenpunkte in meinem Kopf auf ganz neue Weise. Ich überfliege nicht nur die Worte, um schnell an anderer Stelle weiter zu lesen, sondern lasse mich auf alles im Buch ein.

Letzte Woche fiel mir ein wunderbares Buch wieder in die Hand. Ich erinnerte mich; ich hatte es im letzten Jahr gekauft, überflogen, für gut befunden und dann ins Regal gestellt. Wohlgemerkt ein schönes Regal, aber abgestellt ist abgestellt.

Was hat sich verändert? Warum ausgerechnet dieses Buch? Warum jetzt?

Im englischen würde ich jetzt sagen: »I’m in a different headspace.« – Ich bin in einem andern »Kopfraum« klingt jedoch etwas befremdlich, beschreibt es doch aber genau meine Situation. Manchmal ist unser Kopf mit so vielen unterschiedlichen Dingen gefüllt, dass wir keine Möglichkeit finden, uns auf etwas Neues einzulassen. Zu viel Anspannung und Durcheinander ließen mir letztes Jahr nur die Denkkapazität festzustellen, dass es ein gutes Buch ist. Heute weiß ich, es ist wunderbar.

»BURRA – Der fabelhafte Aufstieg der Büroarbeit« ist eine Erlebnisreise der Sinne. Es schafft, eine Ursprungsgeschichte mit grafischen und haptischen Sinnen zu begleiten. Ich bekomme von den Autoren und Gestaltern eine erlesene Mischung aus textbasierten Inhalten und visuellen Reizen, die sich durch wechselnde Papierverwendung zu einem ganz neuen Leseerlebnis zusammensetzen. Der Text ist auf grauem Papier gedruckt, was das Lesen so faszinierend leicht macht. Es entspannt meine Augen und lässt mich durch seine Farbe und Haptik an vergangene Zeiten denken.

Bedruckte Transparentpapiere und stiliesierte Architektur- und Zeitgeschichtsfotografien runden das Bild erfolgreich ab.

BURRA – Der fabelhafte Aufstieg der Büroarbeit von Jan Teunen, Hajo Eickhoff, hrsg. von Friedrich Blaha

Dieses Buch lese ich nun erneut und die Geschichten, die es beschreibt, werden lebendig und prägen sich in meine eigene Erfahrungswelt ein. Ich tauche ein in die Worte von Jan Teunen und Hajo Eikhoff und denke und fühle mich in die Zeit des Mittelalters ein. In Gedanken reise ich zu einem Ort der Ruhe, mit dem Wunsch, Neues zu erfahren.

… von einem STOFF … zu einem DING … zu einem ORT … zu einer IDEE …

Das Wort BURRA beschreibt in einem einzelnen Wort eine ganze Geschichte. Es entwickelt sich im Laufe der Zeit zu genau dem Wort, dass wir heute überall kennen: das BÜRO. Doch wie kam es nun dazu?

Dazu begeben wir uns ins Mittelalter und betrachten die Arbeiten zur schriftlichen Überlieferung der Werke von der Universalgelehrten Hildegard von Bingen. Ihr Leben lang (1089 – 1179) reichert die Benediktinerin und Äbtissin ihr Wissen in einer Vielzahl von Bereichen | Religion, Mystik, Medizin, Naturheilkunde, Musik, Ethik, etc. | an . Nun gilt es diese für die nachfolgenden Generationen und die Nachwelt zu erhalten. Fotografien oder Kopierer gibt es noch lange Zeit nicht, also muss per Hand jedes einzelne Wort auf neuem, für die Zeit sehr kostbarem Papier abgeschrieben werden.

Die Nonnen, die sich dieser Aufgabe annahmen, stellen schnell fest, dass sie für die Arbeit zu lange brauchen, also werden sie von Mönchen unterstützt. Das erste Co-Working entsteht – ganz ungewöhnlich für die Zeit, dass Nonnen und Mönche zusammenarbeiten. Dieses lange Schreiben ist noch keine alltägliche Aufgabe. So langes bedachtes Sitzen ist eine ungewöhnliche Tätigkeit. Auch gibt es noch nicht die heute typischen Büroausstattungen. Also muss experimentiert werden, wie und wo man am besten die Schreibarbeit verrichten kann.

1. Schritt

In Kooperation untereinander wird die erste Schreibunterlage entwickelt, ähnlich eines Stehpults. Er besteht aus Holz, dass relativ rau ist. Noch nicht sehr verfeinert und geschliffen, dient diese Unterkonstruktion der Ablage des Geschriebenen.

2. Schritt

Das kostbare Papier und vor allem das kostbare Wissen muss nun jedoch vor der Rauheit des Holzes geschützt werden. Ein Mönch entscheidet, sein eigenes Gewand, seine Mönchskutte zu verwenden. Dieses Kleidungsstück trägt den Namen Burra. Er legt es zwischen den Tisch und die Papierarbeit.

3. Schritt

Ein Name für den Tisch wird in dem Tuch, dass ihn bedeckt gefunden. Der Name Burra geht auf den Tisch über. »Wenn zur Stabilisierung des Tisches etwa dreihundert Jahre später Bretter und Böcke fest miteinander verbunden werden, geben die Franzosen dem Tisch den Namen bureau (von burra).« Q1

4. Schritt

Wie bereits erwähnt, ist dies eine ganz neue Tätigkeit, doch wo soll ihr nachgegangen werden? Einen designierten Arbeitsraum gibt es in Klöstern noch nicht. Zur Aufbewahrung der Burra-Tische braucht es einen Ort an dem sie verweilen können. Dazu werden Nischen oder Zwischenräume als vorläufiger Ort gefunden. Eine solche Nische wird als officina | Werkstatt | bezeichnet. »Erst weitere Jahrhunderte später wird der Raum, in dem das bureau, der Tisch steht, zum Büro, wie wir es heute kennen.« Q2

5. Schritt

Die Namensübertragung geht also von einem Stück Stoff (burra), auf einen Tisch (bureau), auf einen Ort (Büro) über und entwickelt sich immer weiter in eine Idee der kollektiven Zusammenarbeit. Genau wie die burra das Kostbare schützte, so gibt uns das Büro heute auch einen Schutzraum, der nicht mehr nur das Wissen, sondern in erster Linie die Gemeinschaft von Ideengebern schützt, die gemeinsam etwas Neues erschaffen wollen.

Hier eine kurze visuelle Zusammenstellung der Begriffsübertragung:

Worte mögen mitunter trivial scheinen. Sie sind einfach, doch das waren sie nicht immer. Mit ihrer Entwicklung gehen auch kulturelle und zwischenmenschliche Entwicklungen einher, die es Wert sind, betrachtet zu werden. Die Entstehungsgeschichte unserer Büros ist eine faszinierende und ich bleibe neugierig, wie viele Facetten ich in dieser Entwicklung noch entdecken kann.

Ich kann jedem nur empfehlen, dieses Buch selbst einmal zu erleben. Die Autoren schaffen eine noch viel detailliertere Darstellung der Ereignisse. Ich durfte sehr viel Neues lernen und dafür bin ich unendlich dankbar. Die Faszination immer wieder offen zu sein, Neues zu lernen ist eine Möglichkeit und Qualität, die ich sehr hoch schätze. Wer kann sich noch für das lebenslange Lernen begeistern?


Literatur

Q1 + 2 Blaha, Friedrich (Hrsg.) 2018, Burra – Der fabelhafte Aufstieg der Büroarbeit, Östereich, S.80